Matte Oberfläche, Klebestreifen, Kratzer und leichte Blessuren. Zeugen eines harten Alltags. Dieser Bugatti Chiron1 wurde nie geschont. Mehr als acht Jahre lang dient dieses Fahrzeug als Arbeitsgerät, als Werkzeug, um den Chiron zur Serienreife zu entwickeln. Und das auf und in verschiedenen Kontinenten und Klimazonen.
Das Leben eines Bugatti-Testautos: Der Bugatti Chiron 4-005
Der 4-005, wie er intern genannt wird, fährt als erster Chiron in den USA, driftet in Skandinavien im Schnee, dreht auf dem Hochgeschwindigkeits-Oval in Nardo seine Runden, besteht in Südafrika Hitzetests und lässt den Nachbrenner eines Eurofighter Typhoon über sich ergehen.
Der Hypersportwagen dient als rollendes Testlabor der Entwicklungsabteilung Elektrik und Elektronik, wird bis zuletzt aktualisiert und nicht geschont.
In der Regel entwickeln Versuchsingenieure einen Prototypen für eine bestimmte Aufgabe, testen ihre Systeme bis kurz nach Produktionsbeginn – anschließend wird das Fahrzeug entwertet. Nicht so beim „Vierfünf“.
Bei über 400 km/h benötigt der Fahrer keine Ablenkung, sondern die volle Konzentration für die Fahrt.
Die vier steht für Prototyp und die fünf für den fünften Prototypen des Chiron. Insgesamt entstehen acht Prototypen, jedes von Hand aufgebaut mit vielen speziell angefertigten Teilen. Im 4-005 wird ab 2013 die gesamte Software für den Chiron entwickelt und getestet.
Heißt: Rund 30 Steuergeräte im Fahrzeug durchlaufen nach einer Änderung alle ein bestimmtes Testprocedere – zuerst auf dem Prüfstand und dann im Fahrzeug. Zusätzlich kontrollieren die Ingenieure bei Veränderungen den Zustand und damit die Qualität.
In der Anfangszeit vor Markteinführung des Chiron im Jahr 2016 schützt eine rettende Plane vor zu neugierigen Blicken und Paparazzi.
Das Team fährt quer durch die USA und durch halb Europa, um alle Systeme zu kontrollieren und abzustimmen. Death Valley, Grand Canyon, Granada oder Großglockner: Karten und Navigation müssen in allen Ländern einwandfrei funktionieren, ebenso Satelliten-, Antennen-, Radio- und Telefonempfang.
Die Experten kontrollieren, wie sich die Telemetrie Daten verhalten, wenn das Auto durch verschiedene Funknetze oder ohne Netz fährt. Bei Hitzetests in der Wüste achten sie auf Kälteströme, Ansprechverhalten und Geräusche der Klimaanlage. „Viele Bereiche lassen sich zwar simulieren, doch die finale Abstimmung erfolgt wochenlang auf der Straße“, erklärt Rüdiger Warda.
Ebenso durchläuft der 4-005 alle Updates, bevor sie in Serie gehen. Dazu zählen neue Funktionen des Navigationssystems oder eine Telefonkonferenzschaltung sowie die Menüführung des HMI mit einer strengen Design-Vorgabe: Ein minimalistischer Innenraum, ohne große Displays, soll alle Informationen bieten, steuerbar vom Lenkrad aus.
Mark Schröder, entwickelt seit 2011 das Human Machine Interface (HMI) für den Chiron und damit auch die Menüführung. „Wir möchten dem Fahrer viele Informationen zur Verfügung stellen und diese logisch und elegant aufbereiten, dazu müssen sie intuitiv zu bedienen sein“, erklärt Schröder.
Um ein zeitloses, reduziertes und elegantes Design darzustellen, entscheidet sich Bugatti für eine zentrale Geschwindigkeitsanzeige, positioniert daneben hochauflösende 6-Zoll-Displays.
Die vier runden Bedienelemente der Klimaanlage in der Mittelkonsole verfügen über eine zweite Anzeigeebene. „Wir haben bei Testfahrten festgestellt, dass es für den Beifahrer wichtig ist, Fahrzeuginformationen zu erhalten.
Die können wir über die Displays ausspielen.“ Daneben stehen im Infotainment je nach Länderkonfiguration 30 Menüs in sechs Hauptmenüs zur Verfügung. Neben der Funktion achtet Bugatti auf angenehme Druckpunkte und eine genaue Kräfteauslegung. Tasten, Schalter und Regler fühlen sich zudem sehr hochwertig an.
So werden seitdem alle Regler ausbalanciert und benötigen exakt die gleiche Drehkraft beim Verstellen, wie auch die Regler auf dem Lenkrad.
Als Mark Schröder bei einer Testfahrt in Arizona/USA die Schrift der Menüführung schlecht erkennen kann, überlegt er sich im Anschluss direkt eine Lösung: Wie bei einem e-Ink-Display eines e-Book-Readers ändert sich nun über ein Signal des Sonnensensors der Display-Hintergrund von schwarz auf weiß, die Schrift damit von weiß auf schwarz.
„Viele Detaillösungen entdecken wir auf Fahrten, diskutieren sie anschließend im Team und setzen sie um, zuerst im 4-005“, erklärt Mark Schröder. Selbst Schrift und Schriftgröße, Anordnung der Menüs oder Zusatzpunkte werden wieder und wieder bei Fahrten überprüft. Auch die komplette Soundabstimmung erfolgt erstmals im 4-005.
Hifi-Experten tüfteln tagelang mit unterschiedlichen Tönen und Musikstücken am perfekten Klang, entscheiden sich am Ende für vier Hochtöner mit 1 Karat Diamant-Membran, zwei Tief-Mitteltöner und zwei Subwoofer.
Dabei legen sie großen Wert auf den Klang der Musik, aber auch die Wiedergabe von Telefonaten – bei verschiedenen Materialien im Innenraum.
Auch wenn es ein Arbeitsgerät ist, so ist doch jede Fahrt mit dem Chiron etwas Besonderes. „Trotz der immensen Leistung sind wir bis zu zehn Stunden am Stück gefahren – und abends fit aus dem Auto gestiegen“, sagt Norbert Uffmann, verantwortlich für Telemetrie und Vernetzung bei Bugatti. In positiver Erinnerung bleiben die vielen schönen Momente mit dem Fahrzeug, wie auch die Reaktion von anderen Verkehrsteilnehmern.
Ganz gleich, ob Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger, der Chiron erzeugt Freude und Begeisterung. Selbst strenge US-Polizisten interessieren sich für den Hypersportwagen, stellen Fragen und posieren für Fotos. Mehrmals aktualisieren die Ingenieure Hard- und Software, halten den Prototypen technisch immer auf dem neuesten Stand.
Dabei überprüfen sie auch die Qualität und Funktionen der Bauteile, die sonst ein Autoleben lang nicht angefasst werden, wie Steckverbindungen oder Steuergeräte. Das Ergebnis: Auch nach acht Jahren und über 74.000 Kilometer Laufleistung, wohlgemerkt bei hartem Einsatz, zeigt sich die Elektronik nahezu verschleißfrei. Jetzt geht der Prototyp in den Ruhestand. Verdient. Nach all der harten Arbeit. (Fotos: Bugatti)